Leben in Odessa

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Oft sind mir die scheinbar unmotivierten Stiegenaufgänge aufgefallen, die sich vom Gehsteig zum Haustor hinaufschrauben oder schieben. Das betrifft Wohnhäuser und Geschäftslokale. Auch zum Reisebüro musste ich über solche geländerlose, glatt verfliesten Stufen ein oder zwei Meter hinaufsteigen. Dabei handelt es sich, wie ich nun nach Tagen erfahren habe, um Vorsichtsmaßnahmen, falls ein Hochwasser vom Meer her droht.
Ukrainer leben klimabewusst.

Die Stadt entwickelt sich schnell. Am Dienstag ging ich vor einer düsteren Kirche vorbei, die geschlossen war. Am Mittwoch stand davor ein Baugerüst, das mit einem grünen Netz verhüllt war. Heute staunte ich über die bereits geöffnete Kirche, die in kräftigem Rosa prächtig erstrahlte. Es könnte sich um eine neue Epoche der Stadtentwicklung handeln, die sich nicht mehr in die Fläche erstreckt, sondern in die Farbe.

Die Preobratenzkaia hat zur Hälfte bereits neuen Asphalt und der breite Gehsteig neue Steinfliesen. Sie werden unermüdlich von Arbeitern gesägt und verlegt, die aus Lemberg stammen. Sie arbeiten vor meinem Hotelfenster und schlafen im Nebenraum. Unser Trakt heißt bei der Rezeption „Jugendherberge“, weil dort Stockbetten stehen und wir uns Dusche und Toilette teilen.

Seit gestern sind zwei Damen in unserem Männer-Stockbettzimmer aufgetaucht, offensichtlich Mutter und Tochter. Zuerst sah ich sie grußlos Mahlzeit halten auf der Bettdecke in der Mitte des Zimmers, auf der kurz zuvor ein junger Türke Mittagsschlaf gehalten hat. Sie hatten Konservendosen und Plastiksäckchen liegen und unterhielten sich flüsternd, mir den Rücken zuwendend. Mir war das Blümchenkleid aufgefallen, das mich an Kleider und Tapeten meiner Großmutter erinnerte. In der Nacht fand ich sie im Bett schlafen hinter einem Vorhang, die Tochter obenauf am Stockbett. Heute Nachmittag, als ich von einem meiner Streifzüge zurückkehrte, wisperten sie am Bett neben meinem. Ich hängte mein Handtuch zum Trocknen zwischen unsere Betten. Als ich wieder erwachte, waren sie nicht mehr da.
Heute, als noch eine runde Frau (Stockbett unten) und ein runder Mann (oben) aufgetaucht sind, klärte sich das Rätsel. Denn im finsteren Zimmer gaben sie sich stückweise in „kleinem Deutsch“ als Moldawier zu erkennen, die hier Urlaub machen. Bin gespannt, wieviele es morgen sind.

Die Beamtinnen an der Kartenkassa reagierten ganz anders auf ihre Unkenntnisse. Als ich endlich an der Reihe war und klar und deutlich „Ticket“ und „Zaporizzja“ sagte, was ja auch ohne Fremdsprachenkenntnisse verständlich sein müsste, sprang sie auf, plärrte etwas in ihrer hohen russischen Fichtelstimme, was wie Service klingen mochte und fuchtelte in der Luft herum, ohne dass ich eine bestimmte Richtung erkennen konnte. In der Nähe fand ich nur den Bahnhofsimbiss, die Toiletten und Büroeingänge. Deshalb versuchte ich es bei einer anderen Kassa noch einmal, die außer Hörweite war. Doch die Reaktion war genau gleich, als handelten sie planmäßig auf höhere Weisung.
Schließlich fand ich doch die erahnte Service-Station hinter gläsernen Schwenktüren, und die dortige Dame unterschied sich zwar nicht durch Fremdsprachenkenntnisse, aber durch Geduld und die Bereitschaft, zuzuhören und im Bedarfsfall auch zu lesen. Jeden Datumsvorschlag, der ihr nicht gefiel, beantwortete sie mit „njet“, solange, bis ich schließlich eine Karte in der Hand hielt, auf der meine Passnummer, mein Name und die Nummer von Wagon und Sitzplatz verzeichnet waren. Also bin ich schon sogut wie verreist!

In einem Park um einen kleinen Brunnen war mir eine Menschenmenge aufgefallen, und in der Mitte wurde etwas deklamiert. Ich schlich mich heran und dachte an Protestversammlungen wie am Maidan in Kiew, oder zumindest an Gedichtrezitationen wie im Hyde-Park. Doch ich erfuhr, dass die unscheinbare kleine Frau, die ich schon öfter vorbeigehen gesehen habe, und die sich nun, auf eine Steinfigur gestützt, über eine Liste beugte, nur die Reihenfolge der Namen vorlas, die auf einen Pass warteten und folglich eine Angestellte des Passamtes sein musste, das gegenüber lag. Jeden Tag würden fünfzig Anträge bearbeitet, und von den verbliebenen ergab sich dann die Reihenfolge der Ausfertigung am nächsten Tag. Immerhin ist das eine persönliche Art von Kundgebung, die über den Informationsgehalt hinausgeht.

Dort, wo am Nachmittag Menschengewühl den Stadtpark und seine Nachbarstraßen verstopft, fand ich am kühleren Vormittag eine seltsame Szene. In der Mitte der leeren Pflasterstraße stand ein großer geöffneter Vogelbauer. Daneben stand eine junge Dame und hielt einen Spiegel in ihrem Schoß. Ihr Blick und der der meisten Passanten ging angestrengt nach oben zu den dichten Alleebäumen. Gegenüber stand ein Grüpplein junger Leute, die fortgesetzt Schnalz- und Pfeiflaute produzierten und mit einem Glöckchen begleiteten. Ob die Musik aus dem benachbarten Lokal dazugehörte, konnte ich nicht abschätzen. Jedenfalls blickten alle Gäste in die Bäume. Einmal meinte ich etwas Weißes, Federhaftes von einem Zweig auf einen andern huschen zu sehen, was von großem Geschrei am Boden begleitet wurde.
Als ich eine Stunde später wieder vorbeikam, stand das Grüpplein in der Nachbarstraße, die auch eine Allee war, und hatte seine Lockutensilien dort aufgebaut.


Auf einem Streifzug habe ich eine Moschee entdeckt. Als ich die Stufen zum Eingang hinaufstieg, folgte mir einer der Drei, die im schwarzen T-Shirt an der Kreuzung zusammenstanden und offensichtlich Polizisten waren oder Security-Leute. Im ersten Stock sah ich Stühle und Schuhfächer, den Eingang zu den Bädern und einen weiteren Stiegenaufgang, wo ich die Frauentribünen erwartet hätte. Von dort sprach mich aber ein Mann an, der mich hinauflotste, nachdem ich die Schuhe ausgezogen hatte. Dort trat ich in einen unspektakulären modernen kleinen Gebetsraum mit Mitrab und einer noch darüber liegenden Frauenempore. Ich fragte den europäisch aussehenden Mann, ob die Moschee tartarisch oder tschetschenisch sei, und er antwortete knapp, sie sei arabisch. Als ich verwundert nachfragte, ob es hier überhaupt eine arabische Gemeinde gäbe, war er nicht mehr zu sehen. Stattdessen kam der breitschultrige Polizist wieder die Stiegen herunter und schlüpfte wie ich wieder in die Schuhe.

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Nach stundenlanger Suche fand ich die Hauptsynagoge. Als ich hinzutrat, erklärte mir der Wächter, ein Besuch sei nicht möglich. Der zweite Wächter begründete es mit dem Sabbat. Auf meine Entgegnung, dass wir doch Freitag hätten, meinte der dritte, jetzt sei Gebetszeit, ich möge in einer Stunde wiederkommen. Bei meiner zweiten Wallfahrt wurde ich dann von allen dreien in den Gebetsraum geführt, den ich jedoch nur in der rückwärtigen Hälfte betreten durfte. Alles Interessante war aber natürlich in der vorderen Hälfte. Glücklicherweise habe ich ein Teleobjektiv. Dass ich den Raum vorschriftsgemäß mit einer Kippa betrat, konnte ich aber nicht einmal damit dokumentieren.


Am Nebentisch sitzt ein interessantes Paar. Die Dame sitzt mir genau vis a vis, hat jedoch nur Augen für den Mann an ihrer Seite, der etwas kleiner ist als sie und mit gekrümmtem Rücken neben ihr sitzt. Sie isst und redet auf ihn ein. Dabei hat sie die schlanken gebräunten Ellenbogen auf den Tisch gestützt, legt die Kopf schief und sieht ihn aus dunklen Augen an, die unter dem rotblonden Haarschopf mit dem Stirnfransen hervorblitzen. Meine Aufmerksamkeit hat aber der angestrengte Blick des Mannes erweckt, den er mir immer wieder seitwärts zuwirft. Seine Haare sind etwas zerzaust, und zuweilen greift sie hinüber und richtet etwas daran oder ergreift seine Hand, die an der Lehne ruht. Sie trägt ein dunkelgrünes knappes Kleid und hat unter dem Tisch die Beine überkreuzt. Den Körper biegt sie einmal nach rechts, dann nach links und wirft den Kopf in den Nacken, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Dann stützt sie den Kopf auf den Unterarm und redet auf ihn ein, oder sie zupft an ihrem Ohr und pendelt mit dem Kopf. Er gibt etwas zurück, sie lächelt oder macht einen Schmollmund oder überdreht die Augen. Dann kommt er auf die Idee, ein Selfie von ihnen zu machen, und sie stellt eilig die Coctails ins Bild, die genau die Farbe ihres Kleides haben. Nun pendelt er abwiegend mit dem Kopf, während sie auf ihn herabsieht und blinzelt.

Die Kellner haben bereits abkassiert und wollen keine Bestellungen mehr aufnehmen, obwohl alle paar Minuten ein Grüpplein Teenager hereinkommt und Platz nimmt. Vor einer knappen Stunde sah ich Eltern ihre Kinder heimbringen. Die Tagesgeräusche sind versickert: das grelle Quietschen der Bremsen des gelben Autobusses, das Rumpeln der Straßenbahn, das Holpern der Autoreifen über das Pflaster. In bestimmten Intervallen erscheinen junge Paare oder Dreiergruppen am Gehsteig hinter der grünen Bretterwand mit den Blumentrögen, die Gäste im Gastgarten plappern unaufhörlich, vereinzelt quält sich ein Moped die Hrecka hinauf, und die italienische Musik drohnt endlos in Schleifen.

Die Moldawier, von denen eine aus Mariopul stammt und ukrainisch spricht, ein anderer aus Transnistrien, er spricht belarussisch, sind tatsächlich noch weiter angewachsen. Heute hing bereits ein fremdes Handtuch vor meinem Bett.

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