poltava

Montag, 14. August 2017

Splitter

Rote Augäpfel kratzen in den Augenhöhlen, seit der Türke in meinem Zimmer, nachdem ich eingeschlafen war, die Fester geschlossen und die Klimaanlage angestellt hat. Nie wieder geh ich vor den anderen schlafen.


Die Saunatherapie zwischen Charkiv und Poltava heilte das eine Auge, das ukrainische Bier das zweite.


Auf den Bahnhofsstiegen ist es etwas kühler als in der Halle, und die Zuganzeige ist ohnehin ausgefallen. Ein Mädchen kommt herunter geschritten und blickt suchend in die Menge. Ich hätte sie für 14 gehalten, aber hier sehen die Jugendlichen jünger aus. Da hat sie ihr Ziel entdeckt und springt nun mit Stelzsprüngen im Zickzack durch die Menge und fällt ihren Eltern um den Hals. Später meine ich sie mit ihrem Freund eng umschlungen in der Nähe stehen.


Mir gegenüber saß eine Frau etwa meines Alters, wie alle Ukrainer nicht begeistert von meinem Dasein. Wir hatten die Schmalsitze entlang des Durchgangs, den kriegen Singles, während Familien in den offenen Kojen kampieren. Die schlanke Frau hatte ein schwarzes Spitzenkleid und bekam immer wieder Besuch von einer kleinen alten Dame mit Bürstenhaarschnitt. Immer wieder blickten sie zu mir her und lachten.
Die Frau saß in Fahrtrichtung, ich dagegen. So hatte ich, wenn ich mich zum Tischchen wendete, die Notbremse im Rücken, und wenn ich mich zum Gang wendete, den Haltegriff. Man lernt, so zu sitzen. Auch drei Stunden.
Dann wurde es dunkel, und die Fahrgäste wurden emsig und packten die Leintücher aus den Plastiksäcken. Ich sah alte Frauen behende auf die Liege hinaufklettern und junge ungeschickt heruntertasten. Die Männer schliefen mit angezogenen Beinen in Babystellung. Frauenfüße mit in allen Farben lackierten Nägeln hingen in den Gang hinein aus allen Liegehöhen.
Als mein Gegenüber ihre Schlafstatt herzurichten begann, musste ich meinen Rucksack herunternehmen und klemmte ihn mir zwischen die Beine. Nun stieg sie auf die Sitzflächen und streifte mit dem Saum ihres Kleides meine Oberschenkel. Schließlich war sie so weit und begann das Kunststück, sich hinaufzuarbeiten, ohne ihr Kleid zu lüften. Ihr Gesicht konnte ich nicht sehen.


Wie angekündigt kam ich an der richtigen Adresse an, und als ich auf die beschriftete Tür zuschritt, öffnete sie sich, und ein nettes Wesen nannte meinen Namen und empfing mich. Sie führte mich die Stiegen hinauf und zeigte mir die kleine Wohnung mit Stockbettenzimmer, einer Küche und einem verglasten Balkon. Soetwas habe ich noch nicht erlebt. Hier war Bügel- und Trockenraum, hing eine Holzschaukel vor dem Fenster und lagen Sandsäcke, auf denen ich gerade Serhij Zhadan gelesen und laut gelacht habe. Ich nannte das Wesen mit den winzigsten Pants und den schlanken Schultern Lovely Rita, obwohl sie Christina heißt.

Rita oder Christina arbeitet die halbe Woche hier, erzählt sie mir. Die anderen Tage jobbt sie im Supermarkt. Ein Job ist zuwenig zum Leben. Sie hat eine sechzehnjährige Tochter, die jetzt bei ihrem Vater in Moskau ist. Und sie arbeitet tatsächlich, wie ich das noch in keinem Host gesehen habe. Von Morgen bis Abend putzt und wäscht sie, jetzt um halb zehn bügelt sie Leintücher. Morgen wird sie das mit meinen tun. Sie hat es sehr bedauert, dass ich nur so kurz bleibe.


Ein Blick eines Mädchens im Park. Verzückt, verzaubert, voll Hoffnung und Hingabe. Ich habe soetwas nur in alten Filmen gesehen oder in Hörspielen von Bachmann oder Horwarth gehört. Dort wird der Himmelsblick immer enttäuscht und zerbrochen durch die Erde.


Ich steuere auf eine Parkbank zu, doch drei Jungs überholen mich und knallen sich hin. Ich setze mich dazu und höre ihre Handymusik, ihr Gelächter und atme ihren Zigarettenrauch. Es ist wie bei uns.


Ein kleines Mädchen posiert vor Papas Handykamera, schwingt das Tanzbein und balanciert mit den ausgestreckten Armen. Als Papa genug hat, verzieht sie sich ins Heckenlabyrinth.

Poltava

Ich beginne mal von der Seite, die gerade hier diskutiert wurde. Dass man Gott zu einem Reflex des Menschen erklärt, ist ja zentrale atheistische Doktrin des Kommunismus. Deshalb war das öffentliche Feststehen im Glauben ein Staatsverbrechen, und Millionen von Priestern, Mönchen und Nonnen kamen hinter Gitter, für 10 oder 20 Jahre in den GULAG oder ins Grab.
Beispiele aus Poltava:
Die Maria Entschlafungs-Kathedrale aus dem 18. Jht, gebaut für 10.000 Gläubige, wurde 1934 von den Sowjets zerstört und entweiht. Jetzt wird sie wieder aufgebaut, man kann die Drainagen sehen, den neuen, unpassenden Spiegelmarmorboden und die unvollständige Ikonostase. 2004 wurde die Kirche wieder feierlich eingeweiht.

Noch drastischer das Kreuzerhöhungskloster, das es seit 1650 gibt und das geistiges und kulturelles Zentrum des Landes war mit seiner Bibliothek und seinem Männerseminar. Zu Beginn des 20. Jhts lebten dort 40 Mönche. 1923 schlossen die Bolschewiken das Kloster, zerstörten die Ikonostase und plünderten den Friedhof, dessen Grabsteine sie zum Straßenbau verwendeten. Der NKWD errichtete darin 1930 ein Straflager für Kinder und Jugendliche, erst im Kriegsjahr 1942 durften ins zerstörte Männerkloster Nonnen einziehen. 1960 wurden sie wieder weggeschickt, und man errichtete eine psychiatrische Klinik daran. Doch Krankenschwestern und Nonnen kämpften für die Rückgabe, und seit 1991 feiern sie wieder die göttliche Liturgie dort.

Eine ähnliche Geschichte hat das byzantinische Kloster auf der Klosterinsel, dessen Reste ich in Dnepropetrovsk besucht habe das in 10. Jht errichtet wurde und wo Fürst Vladimir das Christentum für die Kiewer Rus annahm. Die Sowjets bauten eine riesige Eisenbahnbrücke über die Insel hinweg, die erste weltweit gänzlich aus Stahlbeton und heute unter Denkmalschutz.
Aber die Christi Verklärungskirche, von Zarin Katharina und Josef II. gegründet, die größer werden sollte als der Petersdom, wurde 1930 zum atheistischen Museum. Seit 1991 ist sie wieder eine Kirche, ich habe dort eine Liturgie erlebt.

Dass bringt mich auf den Gedanken, selbst ein atheistisches Museum zu errichten in Kärnten, mit allen seinen Spielarten!


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Zuletzt aktualisiert: 21. Aug, 14:06

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