Auch auf den Mond ist kein Verlass.
Dottergelb tanzte er zwischen den Wäldern am Horizont
in seiner abnehmenden Phase,
als der Zug auf Charkiv zuschlingerte.
Bahnfahren in der Ukraine ist wie Sauna in Jeans und T-Shirt.
Seitlich neben mir saß ein Mutter-Sohn-Paar.
Die Mutter sah japanisch aus
und hatte Arme, dünn wie Birkenästchen.
Der Sohn war auch dünn und bestimmt zwanzig.
Die beiden sprachen während der ganzen fünf Stunden
konzentriert und aufmerksam miteinander.
(Die eine Stunde, die ich eingedöst bin,
war es gewiss nicht anders.)
Man kann das nicht Unterhaltung nennen.
Das sah aus wie große Fragen stellen,
wie Beichten oder gemeinsam Nachdenken.
Sie sahen sich in die Augen wie Verliebte,
forschend und nachdenklich
und ohne Grinsen.
Ja, man kann der Sprache zusehen.
Damals war der Mond etwa zur Hälfte beleuchtet
und tauchte immer wieder hinter den Hügeln unter.
Ich war im zweiten Saal von
Oksana Sabuschkos
Museum der vergessenen Geheimnisse
und tastete mich durch das Interview
mit Wladislawa Matusewytsch
und den Inhalt einer Damenhandtasche.
Es ging darum, Erinnerungen nachzuverfolgen,
die nachträglich eine besondere Bedeutung erlangen.
Die Lutheraner - das steht nirgendwo bei Sabuschko -
nennen übrigens Kirche eine Erinnerungsgemeinschaft.
Und die orthodoxe Kirche sieht ihr Rückrat
in der unveränderten Treue zum Ursprung.
Als der Zug schließlich in den Bahnhof von Charkiv einrollte
und ich mich von den Mitreisenden verabschiedete,
die am nächsten Morgen in Moskau sein würden
und mich durch den Wagon schob,
der aussah wie ein Krankenhaussaal:
Kinder, Männer und Frauen halbnackt
auf weißen Leintüchern -
da stand der Mond bereits über den
Fabrikschloten und war immer noch
breit und gelb.
Ich hatte die Karte von Charkiv
ungefähr im Kopf
und hätte eine von zwei Straßenbahnlinien nehmen können.
Aber ich wollte mit der Abendluft,
dem Klang und dem Tempo bekannt werden
und nicht wie ein Dieb in die Stadt einfallen.
Im Nachhinein hat mich mein Gedächtnis nicht betrogen.
Wo ich hätte innehalten müssen,
fand ich den Namen der Straße nicht
und ging einfach weiter.
Die Brücke über den Kanal machte mich stutzig.
Ich suchte nach Auskunftspersonen
und fand schließlich einen Deutschen vor dem Mac. Donalds.
Als ich wieder beim Wasser war
und im finsteren Park mit Pärchen und Musik
und bunten Lichtern,
ist die angebliche Brücke immer weiter fortgerückt.
Stattdessen regnete der Himmel Sterne,
und niemand von den Nachtschwärmern hat es bemerkt.
Sie sind herabgeregnet als Segen
für meine Kranken zu Hause.
Für sie habe ich diese Nacht bestanden -
auch wenn ich das erst später begriff.
Aber der Mond hatte die Farbe behalten
und den Umfang noch vergrößert,
sodass er bereits fast wieder voll war.
Schließlich arbeitete ich mich die
Kontorska von der falschen Seite wieder hoch
mit meinem vollen Gepäck
und passierte all die Häuser der Unterstadt am Fluss
in langen Schattenlöchern,
die Höfe und Gärten, Fabriken und Ruinen,
von denen ich bei Serhi Zhadan gelesen habe,
und bald verfolgten mich kläffend und wütend die Hunde,
die in der finsteren Ruine auf mich gewartet haben.
Um Mitternacht stand ich dann vor dem Eingang
des Hostel Sputnik, wo ich angemeldet war.
Doch es gab kein Türschild und keine Klingel.
Als ich schließlich Hilfe bekam von einem Inder,
der mich aus dem Fenster gesehen hatte im Nachbarhaus,
und von seinen Freunden,
da hat der Mond nichts dazu getan.
Er versteckte sich im Schatten
und hatte sich noch weiter aufgeplustert
und tat wie der Vollmond, obwohl das nicht an der Zeit war.
Charkiv habe ich bei Tag auch so gesehen wie bei Zhadan in
Mesopotamien:
zwischen den Flüssen.
Zwischen der reichen, repräsentativen Oberstadt
und den Niederungen am Fluss.
Zwischen dem geregelten eindeutigen Leben
und dem Unabsehbaren, das uns bezwingt.
Ich fragte den Hotelmanager
nach seinem Literaturinteresse.
Immerhin leben in seiner Stadt etliche internationale Schriftsteller.
Ich möchte mir so ein Buch kaufen, sagte er.
Ein Macbook.
weichensteller - 12. Aug, 21:13